Erich Maria Remarque - Der Funke Leben


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1.Schulte war ein junger Mann von dreiundzwanzig Jahren, blond, mit grauen Augen und einem klaren, regelmäßigen Gesicht. Er hatte schon vor der Machtergreifung zur Hitlerjugend gehört und war dort erzogen worden. Er hatte gelernt, daß es Herrenmenschen und Untermenschen gab, und er glaubte es fest. Er kannte die Rassentheorien und die Parteidogmen, und sie waren seine Bibel. Er war ein guter Sohn, aber er hatte seinen Vater angezeigt, wenn er gegen die Partei gewesen wäre. Die Partei war unfehlbar für ihn; er kannte nichts anderes. Die Insassen des Lagers waren Feinde der Partei und des Staates und standen deshalb außerhalb der Begriffe von Mitleid oder Menschlichkeit. Sie waren geringer als Tiere. Wenn sie getötet wurden, so war das, als tote man schädliche Insekten. Schulte hatte ein völlig ruhiges Gewissen. Er schlief gut, und das einzige, was er bedauerte, war, nicht an der Front zu sein. Das Lager hatte ihn wegen eines Herzfehlers reklamiert. Er war ein zuverlässiger Freund, liebte Musik und Poesie und hielt Folter für ein unumgängliches Mittel, um Informationen von Verhafteten zu bekommen, weil alle Feinde der Partei logen. Er hatte in seinem Leben auf Befehl sechs Menschen getötet und nie darüber nachgedacht - zwei davon langsam, um Mithelfer genannt zu bekommen. Er war verliebt in die Tochter eines Landgerichtsrats und schrieb ihr hübsche, etwas romantische Briefe. In seiner Freizeit sang er gern. Er hatte einen hübschen Tenor.

2.
"Ja. Einstweilen. Solange die Notgemeinschaft hier notwendig ist. Und dann?"

"Dann", sagte Werner, erstaunt über so viel Unwissenheit, "dann muß selbstverständlich eine Partei da sein, die die Macht übernimmt. Eine geschlossene Partei; nicht ein Haufen zusammengewürfelter Menschen."

"Also deine Partei. Die Kommunisten."

"Wer sonst?"

"Jede andere", sagte 509. "Nur nicht wieder eine totalitäre."

Werner lachte kurz auf. "Du Narr! Keine andere, nur eine totalitäre. Siehst du nicht die Zeichen an der Wand? Alle Zwischenparteien sind zerrieben. Der Kommunismus ist stark geblieben. Der Krieg wird zu Ende gehen. Rußland hat einen großen Teil Deutschlands besetzt. Es ist bei weitem die stärkste Macht in Europa. Die Zeit der Koalition ist vorbei. Dieses war die letzte. Die Alliierten haben dem Kommunismus geholfen und sich selbst geschwächt, die Narren. Der Weltfriede wird abhängen von - " "Ich weiß?", unterbrach ihn 509. "Ich kenne das Lied. Sag mir lieber, was mit denen geschähe, die gegen euch sind, wenn ihr gewinnen würdet und die Macht hättet? Oder mit denen, die nicht für euch sind?"

Werner schwieg einen Moment. "Da gibt es viele verschiedene Wege", sagte er dann.

"Ich kenne welche. Du auch. Töten, Foltern, Konzentrationslager - meinst du die auch?"

"Unter anderem. Je nachdem, was notwendig ist."

"Das ist ein Fortschritt. Wert dafür hier gewesen zu sein."

"Es ist ein Fortschritt", erklärte Werner unbeirrt. "Es ist ein Fortschritt im Ziel. Und auch in der Methode. Wir tun nichts aus Grausamkeit. Nur aus Notwendigkeit."

"Das habe ich oft genug gehört. Weber hat mir das auch erklart, als er mir Streichhölzer unter die Nagel trieb und sie anbrannte. Es war notwendig, um Informationen zu bekommen." Das Atmen des weißhaarigen Mannes ging in das stockende Todesröcheln über, das jeder im Lager kannte. Das Röcheln setzte manchmal aus; dann hörte man in der Stille das leise Grollen am Horizont. Es war wie eine Litanei - der letzte Atem eines Sterbenden und die Antwort aus der Ferne. Werner sah 509 an. Er wußte, daß Weber ihn wochenlang gefoltert hatte, um Namen und Adressen von ihm zu bekommen. Werners Adresse auch. 509 hatte geschwiegen. Werner war dann später von einem schwachen Parteigenossen verraten worden. "Warum kommst du nicht zu uns, Koller?" fragte er. "Wir können dich gebrauchen."

"Das hat Lewinsky mich auch gefragt. Und darüber haben wir beide schon vor zwanzig Jahren diskutiert." Werner lächelte. Es war ein gutes, entwaffnendes Lächeln. "Das haben wir. oft genug. Trotzdem frage ich dich wieder. Die Zeit des Individualismus ist vorbei. Man kann nicht mehr alleinstehen. Und die Zukunft gehört uns. Nicht der korrupten Mitte."

509 blickte auf den Asketenkopf. "Wenn dieses hier vorbei ist", sagte er langsam, "dann soll es mich wundern, wie lange es dauern wird, bis du ebenso mein Feind bist, wie die da auf den Türmen es jetzt sind."

"Nicht lange. Wir hier hatten eine Notgemeinschaft gegen die Nazis. Die fällt weg, wenn der Krieg zu Ende ist."

509 nickte. "Es soll mich ebenfalls wundern, wie lange es dauern wurde, wenn ihr die Macht hättet, bis du mich einsperren ließest."

"Nicht lange. Du bist immer noch gefährlich. Aber du würdest nicht gefoltert werden."

509 zuckte die Achseln.

"Wir würden dich einsperren und arbeiten lassen. Oder dich erschießen."

"Das ist tröstlich. So habe ich mir euer goldenes Zeitalter immer vorgestellt."

"Deine Ironie ist billig. Du weißt, daß Zwang nötig ist. Er ist die Verteidigung für den Beginn. Später wird er nicht mehr erforderlich sein."

"Doch", sagte 509. "Jede Tyrannei braucht ihn. Und jedes Jahr mehr; nicht weniger. Das ist ihr Schicksal. Und immer ihr Ende. Du siehst es hier."

"Nein. Die Nazis haben den fundamentalen Irrtum begangen, einen Krieg anzufangen, dem sie nicht gewachsen waren."

"Es war kein Irrtum. Es war eine Notwendigkeit. Sie konnten nicht anders. Hätten sie abrüsten müssen und Frieden halten, so waren sie bankrott gewesen. Es wird euch ebenso gehen."

"Wir werden unsere Kriege gewinnen. Wir führen sie anders. Von innen."

"Ja, von innen und nach innen. Ihr könnt die Lager hier dann gleich behalten. Und sie füllen."

"Das können wir", sagte Werner völlig ernst. "Warum kommst du nicht zu uns?" wiederholte er dann.

"Genau deshalb nicht. Wenn du draußen an die Macht kämst, würdest du mich liquidieren lassen. Ich dich nicht. Das ist der Grund."

 



Alexei Volynchyk. 9a. Gymnasium Köln-Nippes. Blücherstraße. Differenzierungskurs Informatik Deutsch.
Webprojekt: Kriegsliteretur und Autoren im Exil. Projektleiter: Herr Kutsch (Mathemax), Frau Krewet.
Texte und Design: Alexei Volynchyk. Form: Michail Vagin, Moskau.